Nicht nur im Supermarkt: Wenn ein Blick mehr sagt als 1000 Worte.
Dr.in Melanie Wolfers
Theologin und Philosophin, Salvatorianerin, Bestsellerautorin und Podcasterin
Neulich an der Supermarktkasse. Mein Handy klingelt, ich nehme den Anruf an, lege die Waren aufs Band, bezahle. Ein flüchtiger Griff nach dem Kassenbon – und schon bin ich draußen. Doch plötzlich: ein Unbehagen. Ich habe die Kassiererin nicht einmal angeschaut, geschweige denn gegrüßt. Ich gehe zurück und entschuldige mich für meine Unaufmerksamkeit.
Die Kassiererin sieht mich überrascht an. „Vielen Dank“, sagt sie leise. „Sie können sich nicht vorstellen, wie erniedrigend es sich manchmal anfühlt, nicht gesehen zu werden.“
Ihr Satz lässt mich nicht los. Ich weiß nicht, wie diese Frau das erlebt. Was ich aber weiß: Wir alle sehnen uns danach, wahrgenommen zu werden. Wünschen uns, dass jemand uns ansieht – nicht flüchtig, sondern mit echtem Interesse. Dass wir für jemanden wichtig sind.
Von klein auf strecken wir uns nach diesem Blick aus. Das Baby jauchzt, wenn die Mutter es anlächelt. Die Jugendliche sucht in den Augen ihrer Freunde Bestätigung, und auch als Erwachsene bleibt dieses Verlangen. Hilde Domin hat es so formuliert: „Es gibt dich, weil Augen dich wollen, dich ansehen und sagen, dass es dich gibt.“
Dieser Satz kommt mir in der Begegnung mit kranken oder leidenden Menschen oft in den Sinn, denn gerade in solchen Situationen hoffen wir auf einen zugewandten Blick. Ein solcher Blick kann einen Moment der Würde schenken, wo man sich entblößt fühlt. Kann Zuversicht wecken, wo sich Resignation breitmacht. Ja, ein solcher Blick kann trösten. Trost nimmt das Leid nicht weg – aber er macht es leichter zu tragen, denn er zeigt: „Du bist nicht allein.“ Hier wird der Mensch dem Menschen zur Medizin.
Das Schöne ist: Der Alltag bietet viele Gelegenheiten, anderen mit einem wachen, offenen Blick zu begegnen. Ein Blick, der sagt: „Ich sehe dich.“ Und mit diesem Blick vielleicht sogar ein Stück Freude weckt.
Als ich gestern einkaufen war, klingelte mein Handy. Ich ließ es klingeln.
Bild: Ulrik Hölzel